Das Gefühl, nicht gut genug zu sein

Sie kann lähmend wirken – die Angst, nicht auf genügend Talent, Intelligenz oder Können zurückgreifen zu können. Vor allem in Bewerbungsprozessen und Selektionsverfahren können derartige Gefühle der Unzulänglichkeit verheerende Folgen mit sich bringen. Die Angst hält Menschen davon ab, sich auf höhere Positionen zu bewerben oder zu verhandeln, sie malträtiert und hemmt zahlreiche Menschen auf dem ganzen Globus. Wenn Sie so wollen, ist das die gute Nachricht: Sie sind nicht alleine. Obwohl das Phänomen weder im ICD-11 noch im DSM-5 aufgeführt ist, kennt fast jeder Mensch Gefühle der Unzulänglichkeit. Manche punktuell, mache phasenweise und manche erleben es täglich.

Das Gefühl, nicht zu genügen, hat viele Gesichter:

  • Wie soll ich mich unter diesen intelligenten Menschen behaupten?
  • Ich kann das eigentlich gar nicht. Sie werden merken, dass ich keine Ahnung habe.
  • Es war Glück, dass ich die Aufgabe lösen konnte.
  • Ich fühle mich als Betrügerin/als Betrüger, weil ich allen vormache, dass ich kompetent bin.
  • Ich bin nur zum Bewerbungsgespräch eingeladen worden, weil ich sympathisch wirke.
  • Es war bestimmt ein Versehen, dass ich vorgeschlagen wurde.
  • Wenn die wüssten, dass ich der neuen Position gar nicht gewachsen bin.
  • Ich bin zwar sozialkompetent und empathisch, aber klug bin ich nun wirklich nicht.


Das Impostor-Phänomen

Der Impostorismus beschreibt das Phänomen, sich als Versager/in zu fühlen. Andere Menschen (z.B. Mitbewerbende in Bewerbungsprozessen) werden als besser, kompetenter, intelligenter wahrgenommen. Impostor heisst übersetzt Betrüger/in. Diese Bezeichnung ist etwas irreführend und kommt davon, dass sich betroffene Menschen als Hochstapler/in fühlen. Damit einher geht das latente Gefühl, aufzufliegen, sich zu blamieren oder als Betrüger/in entlarvt zu werden.

Nicht alle Betroffenen erleben Impostor-Gefühle in eben beschriebener Intensität. Dennoch kennen die meisten derartige Gedanken und damit verbundene Gefühle. Diese treten nicht nur in ganz banalen Alltagssituationen auf, sondern vermehrt auch in Prüfungssituationen oder in Phasen des Umbruchs wie eben bei einem Jobwechsel oder einem Karrieresprung. Die Bewerbungsphase ist also prädestiniert, um sich selbst mit dem Gefühl der Hochstapelei zu sabotieren.

Verzerrte Wahrnehmung

Die berühmte Wiese des Nachbarn ist immer grüner als die eigene. Menschen mit Hang zu Impostor-Gefühlen tendieren dazu, eigene Talente und Begabungen zu unterschätzen und jene anderer zu überschätzen. Der Vergleich des diffusen Gefühls, das der Mensch hinsichtlich eigener Kompetenzen und Fähigkeiten in sich trägt, mit dem, was er bei anderen wahrnimmt, ist zum Scheitern verurteilt. Verzerrte Wahrnehmung par excellence.

Die kurzen Momente, in denen wir andere Menschen erleben, entsprechen nicht der Wahrheit oder der Realität, sondern unserer Wahrnehmung. Ohne Ihnen etwas unterstellen zu wollen: Geben Sie sich immer zu 100% authentisch in Situationen, in denen Sie in Gesellschaft sind? Versuchen Sie nicht auch, sich von der besten Seite zu zeigen? Und bezogen auf die anderen Menschen, die Sie so viel besser, schöner oder intelligenter einschätzen: Wissen Sie, wie lange andere Personen vor einer vermeintlich perfekten Präsentation an den Sätzen geschliffen haben? Wie lange Frau Stark oder Herr Schöni vor dem Spiegel standen und wie beide vor der Rundumerneuerung ausgesehen haben? Können Sie wirklich einschätzen, wer von Ihren ach so kompetenten Kolleginnen und Kollegen kurz vor einem Event nach klug klingendem Gesprächsstoff im Netz gesucht hat?

Kümmern Sie sich um Ihre Versagensängste!

Schweigen hält das Impostor-Phänomen am Leben und lässt das zerstörerische Feuer in uns immer wieder aufflammen. Es entspricht leider der Realität, dass das Thema totgeschwiegen wird, da sich Betroffene schämen.

„Das Impostor-Phänomen lebt vom Geheimnis, vom Versuch, eine vermeintliche Inkompetenz zu vermeiden“, schreibt Sabine Magnet im 2018 erschienenen Buch „Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann?“.

Schweigen führt zum Trugschluss, mit dem Problem alleine zu sein. Höchste Zeit, sich auszutauschen und dem Impostorismus weniger Holz ins Feuer zu werfen! Vor allem vor beruflichen Veränderungen ist es sinnvoll, sich einem Coach, einem Mentor oder einem guten Freund, einer guten Freundin anzuvertrauen, um sich beim Bewerbungsprozess nicht unnötig abbremsen zu lassen.

Wie sehr leiden Sie unter dem Gefühl? Ihr subjektiv empfundenes Leid sollte den Ausschlag dafür geben, ob und wie intensiv Sie sich um Ihre Versagensängste kümmern. Denken Sie, das latente Vorhandensein der Impostor-Gefühle hält Sie davon ab, in Bewerbungsprozessen Ihr Potential zu zeigen? Fühlen Sie sich zum Beispiel gehemmt, eigene Stärken selbstbewusst zum Ausdruck zu bringen oder sicher aufzutreten?  Dann ist ein Handeln sinnvoll.

So tun als ob

Das Impostor-Phänomen führt Menschen mit dem Gefühl, anderen etwas vorzumachen, an der Nase herum. Vielleicht liegt genau hier auch die Lösung. Eine Kollegin empfahl mir in meinen ersten Berufsjahren Folgendes: „Tu einfach so, als könntest du es“. Dieser Ratschlag veränderte die Art und Weise, wie ich mich in Gruppen verhielt, Vorträge hielt und Schulungen durchführte. Durch mehrmaliges „so tun als ob“ lernt der Mensch dazu, wächst und manövriert sich in ein „Gefühl des Könnens“. Und mehr ist es nicht: Ein Gefühl, dessen Wahrheitsgehalt so oder so verborgen bleibt. Dieses Gefühl kann zu Ihren Gunsten und durch Sie selbst verändert werden. Natürlich sollte dieser Tipp nicht davon abhalten, sich um die Ursachen des Impostorismus zu kümmern, trotzdem kann die Umsetzung bereits einige positive Effekte erzielen.

Fakten schaffen

Menschen bewerten ihre eigenen Erfolge subjektiv. Es gelingt demzufolge selten, eigenes Können oder Erfolge objektiv einzuschätzen. Vor allem vor Bewerbungsgesprächen ist es sinnvoll, sich mit den eigenen Ausbildungen, Kompetenzen und beruflichen Erfahrungen auseinanderzusetzen – und das möglichst wertfrei:

  • Welche Aus- und Weiterbildungen haben Sie abgeschlossen?
  • Welche beruflichen Herausforderungen konnten Sie bereits bewältigen?
  • Welche Kompetenzen unterstützten Sie beim Meistern von Problemen?

Oft ist es einfacher, die Perspektive von anderen Personen einzunehmen:

  • Was würde Ihr Chef über Ihre Arbeitsweise oder Ihre Stärken sagen?
  • Welche Rückmeldung erhielten Sie beim letzten Mitarbeitergespräch?
  • Was schätzen Ihre Kolleginnen und Kollegen besonders an Ihnen?

Auch wenn es  vielleicht nicht leicht fällt: Versuchen Sie, die Fragen ohne „aber“ zu beantworten bzw. es auszublenden. Ein „aber“ wird an Gedanken wie „Ohne das Team hätte ich das Problem nie bewältigen können“ oder „Die Ausbildung war ja auch nicht so schwierig“ erkennbar.

Dann lieber Impostor …

Es gibt Schlimmeres. Ein Satz, der nerven kann. Er hat jedoch Wahrheitsgehalt: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der vollkommen von sich selbst überzeugt ist, eine Person, für die Reflexion und Selbstkritik Fremdwörter sind. Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt diese gnadenlose Selbstüberschätzung und wird häufig zitiert.

Auch wenn es aussagekräftigere bzw. differenziertere psychologische Konzepte gibt, kann die Auseinandersetzung mit beiden Konstrukten hilfreich sein. Für die meisten Menschen mit Impostor-Gefühlen wird die Beschreibung des Dunning-Kruger-Effekts keine erstrebenswerte Haltung darstellen. Zwischen den beiden Extremen gibt es jedoch viele Abstufungen und für die meisten Menschen auch viel zu tun. Das Bewusstsein über das Impostor-Phänomen hilft, um Selbstsabotage sukzessive durch Selbstreflexion zu ersetzen.


Literatur:
Clance, P. R. (1988). Erfolgreiche Versager. Das Hochstapler-Phänomen. München: Heyne.
Dunning, D., Johnson, K., Ehrlinger, J. & Kruger, J. (2003). Why people fail to recognize their own incompetence. Current Directions in Psychological Science, 3, 83–87, doi:10.1111/1467-8721.01235.
Magnet, S. (2018). Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann? Über die Angst, nicht genug zu sein. München: mvg.

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